Den Tod zähmen – eine Lektion, der niemand entgeht

An einem herbstlichen Tag machte ich mich mit meiner Tochter auf den Weg zu einem besonderen Ort – zum Tag der offenen Tür in einem Bestattungsinstitut. Statt Pathos und Schweigen erwarteten uns dort Farben, Kinderlachen und Gespräche über das Leben.
Ein Tag, der neue Türen öffnet
Jedes Jahr organisiert „Die Sendung mit der Maus“ Tage der offenen Tür in verschiedenen Betrieben – auch dort, wo man normalerweise keinen Einblick bekommt. Diesmal öffnete ausgerechnet ein Bestattungsinstitut in unserer Nähe seine Türen.
Spiel und Tod – geht das überhaupt?
Für viele mag es merkwürdig klingen, den freien Tag damit zu verbringen, hinter die Kulissen eines Bestattungsunternehmens zu schauen. Und doch versprach die Ankündigung etwas Ungewöhnliches: Spiel und Spaß.
Spiel und Tod? Spaß und Beerdigung? Urnen mit Glitzer verzieren, Särge bunt bemalen, eine „Probe-Beerdigung“ planen?
Bevor man das für geschmacklos hält – ein paar Atemzüge lang innehalten, den Geist öffnen – und weiterlesen.
Mein eigener Weg, die Angst zu zähmen
Für mich war dieses Ereignis ein weiterer Schritt auf meinem Weg, die Angst vor dem Tod zu zähmen. Eine Angst, die mir früher sehr vertraut war. Auch heute schleicht sie sich manchmal leise ein, selbst dann, wenn alles scheinbar in Ordnung ist. Aber sie begrenzt mich nicht mehr. Ich betrachte sie inzwischen mit Neugier und Mitgefühl – auch für uns Menschen, die (vermutlich) die einzigen Lebewesen auf dieser Erde sind, die sich ihrer eigenen Endlichkeit bewusst sind.

Ich möchte außerdem, dass meine Kinder mit dem Bewusstsein aufwachsen, dass Gespräche über den Tod kein Tabu sind. Denn auch wenn er immer traurig bleibt, kann er von Zärtlichkeit, Dankbarkeit und der Erkenntnis begleitet sein, dass alles, was lebt, seine Zeit hat.
Das Schicksal herausfordern
Es gibt kein Leben ohne Tod.
Warum also fürchten wir uns so sehr davor, darüber zu sprechen?
Als könnten wir damit das Schicksal herausfordern.
Aber früher oder später wird es uns ohnehin begegnen – niemand weiß, wann.
Vielleicht ist es daher besser, ihm zu begegnen, es zu zähmen –
so wie der kleine Prinz den Fuchs gezähmt hat.
Denn wer den Tod fürchtet, fürchtet meist auch den Verlust.
Und wer den Verlust fürchtet, fürchtet oft einfach das Leben selbst.
„Man riskiert Tränen, wenn man sich zähmen lässt.“
(Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz)
Wer den Tod fürchtet, fürchtet auch das Leben
Einer meiner Therapie-Klienten sagte einmal, er wolle so leben, dass er am Ende nichts bereuen müsse. Er kämpfte nicht direkt mit der Angst vor dem Tod, sondern mit etwas, das man als existenzielle Krise bezeichnen könnte. Etwas in seinem Leben hatte aufgehört zu funktionieren. Der Sinn war verloren gegangen, und mit der Leere kamen Gedanken an die Vergänglichkeit.
Der Psychiater und Therapeut Irvin D. Yalom, der häufig über Tod und Sinn geschrieben hat, bemerkte, dass man die Angst vor dem Tod nicht besiegen kann, aber man kann sie zähmen – indem man so lebt, dass man am Ende nichts bereuen muss.
Starke Todesangst kann uns die Freude am Leben rauben. Wenn wir uns fürchten, vermeiden wir. Und wenn wir uns dieser Angst nie stellen, können wir mitten im Leben schon ein wenig sterben.
Wo der Tod ein menschliches Gesicht hat
Als wir das Bestattungsinstitut betraten, herrschte dort eine ganz andere Atmosphäre, als man erwarten würde: Statt Schwere und Schweigen – fröhliche Musik, Kinderstimmen, helle, pastellige Farben. Auf den Regalen Urnen mit verschiedenen Motiven, von Blumen bis zur Meereslandschaft. Und im Eingang eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin.
Auf die Frage, was die Besucher hergeführt habe, gab es viele Antworten: Neugier, der Wunsch, den Tod positiver zu betrachten, oder einfach Interesse an der Arbeit eines Bestatters. Ein Mädchen sagte, sie sei gekommen, weil ihr Großvater kürzlich gestorben sei.
Die Mitarbeiterinnen erzählten von ihrer Arbeit – von unterschiedlichen Bestattungsformen (etwa Waldbeerdigungen), von der Organisation, aber auch davon, wie wichtig es ist, den Angehörigen beizustehen:
„Man braucht dafür eine gewisse Leidenschaft. Mich motiviert die Gewissheit, dass ich Angehörige entlaste, die in dieser Zeit oft keine Kraft haben. Diese Arbeit lehrt, was im Leben wirklich zählt. Angesichts des Todes verlieren viele Kleinigkeiten ihre Bedeutung. Außerdem versuchen wir, das Bild von Beerdigungen zu verändern – weg von schweren, bedrückenden Zeremonien hin zu menschlicheren, persönlicheren Abschieden. Bei einer Trauerfeier darf man auch das Lieblingslied des Verstorbenen spielen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, wie er einen geliebten Menschen verabschieden möchte.“ (Mitarbeiterin des Bestattungsinstituts)
Von der Liebe, die bleibt
Dort entdeckte ich ein Buch, das sofort meine Aufmerksamkeit fesselte: „Bevor ich jetzt gehe“ von Paul Kalanithi. Die Geschichte eines Neurochirurgen – aber vor allem eines außergewöhnlichen Menschen –, der selbst an einer unheilbaren Krankheit erkrankte.
Ich las das Buch in einem Zug,
Doch bei den letzten Seiten – dem von seiner Frau nach seinem Tod verfassten Epilog –
hielt ich inne. Ich gebe offen zu: Ich habe dabei geweint.
Es ist eine Geschichte über Leben und Liebe, über den Mut, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen, aber auch über Neugier, Mitgefühl und die menschliche Haltung gegenüber Leid.
Vor Kurzem hörte ich in einem Interview (ich weiß nicht mehr mit wem) einen Satz, der mich tief berührt hat: Nach dem Tod endet eine Beziehung nicht – sie verändert sich nur. Und das empfinde ich als tröstlich. Denn das, was Menschen wirklich verbindet, verschwindet nicht. Es verändert nur seinen Ort – es lebt weiter in unseren Erinnerungen, in unseren Gesten und in der Art, wie wir auf die Welt schauen, nachdem jemand gegangen ist.
Eine Lektion, der niemand entgeht
So wie jedes Leben eine einzigartige Reise ist, ist auch der Umgang mit dem Tod für jeden von uns ein persönlicher Prozess. Manche gehen diesen Weg sanft und natürlich, andere verdrängen ihn, und wieder andere werden plötzlich mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert – durch Verlust, Krankheit oder Schmerz.
„Es gibt kein Leben,
das nicht wenigstens einen Augenblick
unsterblich wäre.(…)
Und wären wir die schlechtesten Schüler,
der Tod wird diese Lektion für uns nachholen.“
(W. Szymborska Tod, übersetzt von Karl Dedecius, erschienen im Band Menschen auf der Brücke, Suhrkamp Verlag)
Jeder Mensch hat seine eigene Art, mit Vergänglichkeit umzugehen. Es steht mir nicht zu, zu urteilen – jeder geht seinen eigenen Weg – jeder wählt das, was im jeweiligen Moment möglich und tragbar ist.
Wenn das Thema jedoch beginnt, dir die Freude am Alltag zu nehmen, dann ist das vielleicht ein Zeichen, es früher zu zähmen – sanft, mit Neugier und Mut. Damit wir am Ende nicht bereuen, dass wir nie wirklich gelebt haben.
Impulse für weitere Reflexion
Zum Schluss möchte ich einige Bücher und Gespräche teilen, die mir helfen, dem Thema Vergänglichkeit mit Offenheit statt Angst zu begegnen.
Bücher
- Irvin D. Yalom – In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet: tiefgründig, mitfühlend und lebensnah: darüber, wie das Bewusstsein des Todes uns lehren kann, wahrhaft zu leben.
- Viktor E. Frankl – …trotzdem Ja zum Leben sagen: darüber, dass man selbst im Leiden Sinn und innere Freiheit finden kann.
- Paul Kalanithi – Bevor ich jetzt gehe: ein bewegendes Zeugnis von Leben, Liebe und Mut angesichts des Unvermeidlichen.
- Judith Viorst – Mut zur Trennung. Menschliche Verluste, die das Leben sinnvoll machen: eine kluge und tröstliche Betrachtung darüber, wie Verluste – von der Kindheit bis zum Alter – unausweichlich zum Leben gehören und uns reifen lassen.
Podcasts, Serien und Filme
- 10% Happier with Dan Harris – „Loss is inevitable. Here’s how to handle it“ (Gespräch mit Kathryn Schulz): eine ruhige, ehrliche Auseinandersetzung mit der Unvermeidbarkeit von Verlust – und wie wir lernen können, ihn mit Mitgefühl und Bewusstsein zu tragen.
- Serie: From Scratch: eine ergreifende Geschichte über Liebe, Verlust und die Kraft, weiterzuleben, ohne zu vergessen.
- Film: Coco (Disney/Pixar, 2017): auch wenn es ein Animationsfilm ist, berührt er tiefgehende Fragen von Erinnerung, Tod und Verbundenheit – und zeigt, dass unsere Beziehungen zu den Verstorbenen in Geschichten, Musik und Liebe weiterleben.
Und vor allem: Gespräche mit nahestehenden Menschen, die schmerzliche Verluste erlebt haben. Sie lehren mich am meisten – dass in einer echten Begegnung zwischen zwei Menschen alles Platz findet: Leben, Tod und Hoffnung.
Comments
Das sind sehr gute Gedanken, die du dir gemacht gemacht hast. Ich bin vollkommen einig mit dir, den Tod mit ins Leben zu holen und sich damit zu beschäftigen-auch wenn es aktuell keinen Todesfall im Familien-oder Freundeskreis gibt. Unser Leben ist endlich und kann jederzeit vorbei sein. Vielleicht kann man dann die kleinen Dinge im Leben besser genießen, andere besser verstehen, sich selbst nicht zu wichtig nehmen und alles so nehmen wie es auf einen zukommt.